Autonomes Fahren im Praxistest: ZF Teststrecke im Selbstversuch

07.08.2019

Um automatisierte Fahrfunktionen im realen Straßenverkehr zu testen, hat die ZF Friedrichshafen gemeinsam mit dem Institut für Weiterbildung, Wissens- und Technologietransfer (IWT) letzten Herbst eine Testtrecke für autonomes Fahren ausgestattet, auf der Kleinbusse, Autos und Prototypen zu Testzwecken Daten aus gängigen Verkehrssituationen sammeln.

Wir haben einen Selbstversuch gewagt und sind die Teststrecke mit unserem Connected Car Experten Markus Beller abgefahren. In diesem Beitrag werden einige Herausforderungen und dazu passende Lösungsszenarien beschrieben, die uns dabei aufgefallen sind.

Die zentralsten Punkte sind auf einen Blick in diesem Video zusammengefasst:

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Los geht’s….
Wir starten unsere Testfahrt beim Skater-Park in der Ravensburgerstraße und fahren dort auf die B31 auf, um an den Punkt zu kommen, wo die Teststrecke beginnt. Kurz danach begegnen wir bereits der ersten herausfordernden Situation für autonome Fahrzeuge.

Wechsel der Verkehrszeichen und Tempolimits

Wir fahren an einer Feuerwehrausfahrt mit dynamischer Ampel vorbei, die bei Bedarf aktiviert werden kann. Darauf muss das Fahrzeug reagieren.

Mögliches Lösungsszenario: Über die sogenannte Vehicle-to-everything-Kommunikation (V2X) kann ein Austausch mit der Infrastruktur stattfinden. V2X ist die elektronische Kommunikation der Verkehrsteilnehmer untereinander und kann verschiedene Formen haben:

  • Fahrzeug-zu-Fahrzeug (V2V)
  • Fahrzeug-zu-Straße (V2R)
  • Fahrzeug-zu-Infrastruktur (V2I)
  • Fahrzeug-zu-Netzwerk (V2N) und
  • Fahrzeug-zu-Personen (V2P)

In dieser Situation muss das Verkehrszeichen per V2X-Kommunikation übermittelt werden oder durch die Bilderkennung sichergestellt sein, dass das Fahrzeug auch dynamische Verkehrszeichen erkennt.

Verhalten im Kreisverkehr

Wir fahren weiter und kommen an den ersten Kreisverkehr auf der Teststrecke. Ein Kreisverkehr ist eine schwierige Situation für ein autonom fahrendes Fahrzeug, denn es muss den Verkehrsfluss antizipieren. Häufig findet im Kreisverkehr eine nonverbale Verständigung der Teilnehmer statt. Der Fahrer versucht, durch die Interpretation des Fahrstils das Bewegungsmuster der anderen Teilnehmer zu erahnen. Unterbewusst werden Fragen beantwortet wie: Wo will ein Fahrzeug hin? Blinkt ein Fahrzeug? Kann dem Blinken vertraut werden?
Der Kreisverkehr gehört mit zu den schwierigsten Situationen für ein autonomes Fahrzeug, da Verkehrsteilnehmer verdeckt sind und die Sensorik den Fokus auf verschiedene Punkte legen muss. Mit mehrspurigen Kreisverkehren steigt die Komplexität nochmals an.

Verhalten im Kreisverkehr

Mögliches Lösungsszenario: Die künstliche Intelligenz muss speziell auf den Anwendungsfall Kreisverkehr trainiert werden. Alternativ muss eine Streckenplanung ohne mehrspurige Kreisverkehre durchgeführt werden.

Straßenführung: Haltelinien, Verkehrsschilder und Ampeln

Auch die allgemeine Straßenführung kann schwierig für ein autonomes Fahrzeug sein. Wie auf dem Bild zu sehen, ist die Haltelinie bereits teilweise abgenutzt. Das Schild auf der rechten Seite deutet darauf hin, dass die beiden Abbiegespuren zusammenlaufen. Ebenfalls zu erkennen ist, dass die gestrichelte Fußgängerlinie bereits verblichen ist. Hierbei ist auch zu beachten, dass z.B. in den USA andere Ampelpositionen bzw. Haltemuster üblich sind als in Europa.

Straßenführung Haltelinien, Verkehrsschilder und Ampeln

Hier findet nun das Zusammenfädeln der Spuren statt, wo wieder Fahrzeuge miteinander kommunizieren müssen.

Mögliches Lösungsszenario: Auch hier hilft die V2X-Kommunikation, in diesem Fall von Fahrzeug-zu-Fahrzeug. Ebenso wichtig sind das Interpretieren und Einhalten von eindeutigen Verkehrsregeln, die heute eventuell noch eine Grauzone darstellen. Des Weiteren sind die Radarsensorik und Lidar zuständig, um die Geschwindigkeit und Entfernung zu bestimmen.

Laub auf der Straße und andere Einflüsse auf die Sensorik

Auf der Teststrecke befindet sich auch ein bewachsenes Stück Straße. Durch den Wald können Blätter und Äste auf der Fahrbahn liegen. Das kann zu Fehlinformationen führen. Es ist wichtig, dass das System mit diesen Situationen umgehen kann, denn Fehleinschätzungen der Sensorik durch externe Einflussfaktoren können gefährlich sein.

Laub auf der Straße und andere Einflüsse auf die Sensorik

Hierbei kann einerseits die Sensorik zum Beispiel Laub durch die Reflektion missinterpretieren. Auf der anderen Seite können beispielsweise Laub oder Schmutz auch die Sensorik stark einschränken. Man denke hier zum Beispiel an den Ausfall von ACC bei Schnee. Gerade das „Sensorik Cleaning“ wird noch wichtiger, da der Fahrer heutzutage ohne ACC (ermöglicht durch Radar) weiterfahren kann, das autonome Fahrzeug jedoch „blind“ wird.

Ebenfalls verändert sich der Reibwert auf der Straße durch Laub. So kann sich der Bremsweg signifikant verlängern. Die Sensorik muss das wahrnehmen und die künstliche Intelligenz bei der Streckenplanung und den Fahrmanövern berücksichtigen.

Mögliches Lösungsszenario: Berücksichtigung dieser Faktoren beim Testen der Funktionalität.

Fehlende Linienführung und Vorfahrt achten

Fehlende Linienführung und Vorfahrt achten

Wir sind schon ein ganzes Stück weiter auf der Strecke und kommen an ein „Vorfahrt achten“ Schild. Das Fahrzeug muss hier selbstständig beurteilen, ob es fahren darf oder nicht. Herausfordernd ist hier auch die fehlende Linienführung. Ebenso sieht man gelbe und auch durchgestrichene Pfeile. Auch ein Blitzer ist zu sehen. Es stellt sich die Frage: Wer haftet für das Fehlverhalten eines autonomen Fahrzeugs bei Straßenverkehrsmissachtungen? Der Hersteller, der Passagier oder der Softwarehersteller?

Mögliches Lösungsszenario: Durch in Echtzeit hochauflösende Karten kann die Situation bewertet werden und bei der Routenführung unterstützen.

Geänderte Routenführung zur Straßensperrung

An dieser Stelle ist die Straße gesperrt. Das wird dem Fahrer durch das Schild und den gelben Pfeil signalisiert.

Autonomes Fahren: Geänderte Routenführung zur Straßensperrung

Das Fahrzeug muss die geänderte Situation erstmal erkennen. Aber es muss auch gleichzeitig fehlerrobust genug sein, um beispielsweise einen gelben Pfeil zu ignorieren, wenn die Straßensperrung wieder aufgehoben wurde. Das Fahrzeug steht also vor der komplexen Frage: Wann ist ein gelber Pfeil gültig und wann nicht mehr?

Mögliches Lösungsszenario: Fahrzeuge können „over the air“ mit entsprechenden Points of Interest (POIs) in Echtzeit geupdatet werden – und erhalten so die entsprechend geltende Routenführung und weitere Informationen, z.B. Staubenachrichtigungen. Ebenso können Informationen über V2X-Kommunikation an das Fahrzeug weitergeleitet werden, die bei der Entscheidungsfindung helfen.

Geänderte Routenführung zur Straßensperrung 2

Baustellen

Eine Baustelle ist für ein autonomes Fahrzeug immer eine Herausforderung, da viele Symbole berücksichtigt und beispielsweise Hindernisse umfahren werden müssen. Teilweise müssen auch bestehende Linien überfahren oder über einen Grünstreifen gefahren werden. Dieses normalerweise verkehrswidrige Verhalten ist in dieser Situation notwendig.

In unserem Beispiel kommt es durch eine Baustelle zur Verengung der Straße. Die Situation ist unübersichtlich, denn es können auch Baustellenfahrzeuge aus- und einfahren. Durch Verschmutzung der Straße kann es darüber hinaus zu einem erhöhten Schwierigkeitsgrad kommen.

Baustellen

Mögliches Lösungsszenario: Bewusstes Training der KI und Testen von verschiedenen Baustellensituationen.

Personen im Straßenverkehr

Eine weitere Schwierigkeit für autonom fahrende Autos sind Personen im Straßenverkehr. Wie hier zu sehen ist, muss die Person beim Überqueren des Zebrastreifens respektiert werden. Das Fahrzeug muss erkennen, ob die Person queren möchte oder nur stehen bleibt. Normalerweise wird dies mit Mimik und Gestik kommuniziert.

Personen im Straßenverkehr

Mögliches Lösungsszenario: Es muss die Kommunikation zwischen Fahrzeug und Personen ermöglicht werden, beispielsweise über ein Display außerhalb des Fahrzeugs. Außerdem muss sichergestellt sein, dass auch verdeckte Personen wahrgenommen werden – z.B. über die Interpretation von Gestik und Mimik bzw. V2X-Kommunikation.

Unübersichtliche Verkehrssituationen

In der Charlottenstraße begegnet uns eine unübersichtliche Verkehrssituation: Ein Tankfahrzeug bleibt auf der Straße stehen. Auf der Gegenseite steht ein anderes Fahrzeug, das Ware entladen möchte. Hierdurch wird die Situation sehr unübersichtlich. Das bedeutet eine schwere Entscheidungsfindung für eine KI im autonomen Fahrzeug, denn durch die schlechte Übersicht sind nicht alle benötigten Informationen zur Entscheidungsfindung verfügbar. Die KI soll einerseits einen flüssigen Verkehrsfluss ermöglichen und andererseits ein Maximum an Sicherheit gewährleisten.

Unübersichtliche Verkehrssituationen

Mögliches Lösungsszenario: Wenn die Entscheidung durch die V2X-Kommunikation nicht getroffen werden kann, greift eine Remote Steuerung (Remote Operator) ein, wenn das Fahrzeug merkt, dass es die Verkehrssituation nicht alleine bewältigen kann. Der menschliche Remote Operator steuert das Fahrzeug aus der Situation und übergibt dem Fahrzeug dann die Steuerung wieder. Die Fahrgäste müssen jedoch darüber informiert werden, damit sie keine ungewünschten Aktionen tätigen, wie z.B. das Fahrzeugs verlassen.

Parkende Fahrzeuge

Hier sehen wir direkt die nächste Gefahrensituation: Ein schräg eingeparktes Fahrzeug, aus dem der Fahrer aussteigen möchte. Insgesamt herrscht an dieser Stelle eine sehr enge Verkehrsführung und es gibt keine Mittellinie zur Orientierung. Das Fahrzeug muss also über eine längere Zeitspanne andere Verkehrsteilnehmer und deren Verhalten beobachten.

Parkende Fahrzeuge

Mögliches Lösungsszenario: Per Fahrzeug-zu-Fahrzeug-Kommunikation könnte eine Warnung an das andere Fahrzeug gesendet werden – oder sogar die Tür blockieren, um eine gefährliche Verkehrssituation zu verhindern.

Fazit: Autonomes Fahren – eine Mammutaufgabe in der Realisierung

Das autonome Fahren ist eine Mammutaufgabe und stellt viele Herausforderungen an die Sensorik eines Fahrzeugs wie hochauflösende Kameras, Lidar, Radar und Ultraschall. Beim Abfahren der Teststrecke stellt sich an mancher Stelle immer wieder die Frage: Wie würde hier jetzt ein autonomes Fahrzeug entscheiden? Es wird deutlich, dass V2X-Kommunikation gerade in Situationen immens wichtig ist, wenn die Sensorik eingeschränkt ist oder es zu einer außergewöhnlichen Fahrsituation kommt, zum Beispiel fehlende Informationen an einer kurzfristigen Baustelle. Um die künstliche Intelligenz entsprechend zu trainieren sind Millionen von Testkilometern in virtuellen Testszenarien nötig. BMW beziffert den Testaufwand mit ca. 230 Millionen Kilometern, wovon „rund 95 Prozent der Testkilometer per Simulation absolviert werden sollen“, schätzt Martin Peller, Leiter der Fahrsimulation bei BMW im Dezember 2018 in einem Bericht von automotiveIT. Hier ist der Aufbau einer virtuellen Testumgebung, die alle Besonderheiten und Extremszenarien berücksichtigt, immens wichtig.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Teststrecke gut gewählt ist viele Situationen bereithält, die herausfordernd für ein autonomes Fahrzeug sind. Gerade der Abschnitt durch die Stadt mit vielen volatilen Verkehrshindernissen und Verkehrsteilnehmern wird für viele Herausforderungen bei der Entwicklung des autonomen Fahrens sorgen. Hier müssen unterschiedliche Lösungsszenarien konzipiert werden. In einem Folgebeitrag werden wir auf weitere Herausforderugen auf der Teststrecke für autonome Fahrzeuge eingehen und Lösungswege aufzeigen.

Noch nicht genug? Hier geht’s zu Teil 2

In verschiedenen Kundenprojekten arbeiten wir bei doubleSlash an den Themen wie virtuelle Testumgebungen für Fahrzeuge und V2X-Kommunikation mit.

> Mehr dazu erfahren Sie hier

Quellen:
https://www.suedkurier.de/region/bodenseekreis/friedrichshafen/Alle-Fakten-zur-Teststrecke-fuer-autonomes-Fahren-in-Friedrichshafen;art372474,9824810
https://iwt-bodensee.de/iwt-und-zf-initiieren-teststrecke-fuer-automatisiertes-fahren-in-der-stadt-friedrichshafen/
https://www.automotiveit.eu/virtuelle-kilometerfresser/entwicklung/id-0064486

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